Was wussten unsere Eltern und Großeltern? (Seite 36 im Buch)
In einem Heimatbuch (Klaus Zimmer, "Erlebte Geschichte 1939 - 1945, Ostertaler Männer und Frauen in Krieg und Gefangenschaft", Niederkirchen i.O. 2003) aus dem Ostertal im Kreis St. Wendel, in dem Ostertaler Männer und Frauen von ihren Erlebnissen im Krieg und in der Gefangenschaft erzählen, kann man auf Seite 17 in dem Bericht von Ludwig Zimmer, sen., aus Saal, geboren 1900, unter der Überschrift "Beschauliches Leben" folgendes lesen:
"Von den Gräueln, die im Dritten Reich im Namen des deutschen Volkes begangen wurden, ahnte ich damals (Zimmer bezieht sich auf das Jahr 1944, Anm. d. Verfassers) noch nichts. Vor dem Krieg hatte ich gute Erfahrungen mit einem jüdischen Viehhändler gemacht, zu dem ich als Landwirt wegen seiner fairen Preise geschäftliche Kontakte unterhielt. Als er dann nicht mehr zu mir kam, um den Kaufpreis für eine von ihm erhaltene Kuh zu kassieren und einfach nicht mehr da war, machte ich mir über den Grund für sein plötzliches Verschwinden keinerlei Gedanken. Nach dem Krieg gewann die Aussage eines Kameraden aus unserer Einheit eine neue Bedeutung. Er hatte mehrfach zu mir gesagt: 'Wehe uns, wenn wir Deutsche den Krieg verlieren und die Alliierten uns für unser Tun zur Verantwortung ziehen'. Was er damit meinte, war mir zunächst schleierhaft. Möglicherweise wusste er, so schloss ich nach dem Krieg rückblickend, von den begangenen Verbrechen."
Was soll man von einer solchen Aussage halten? (Das Interview wurde 1978 geführt, Anm. d, Verfassers.) Soll man sie als zynisch bezeichnen oder als unverfroren oder soll man ihr glauben? Ist es eine absolute Einzelmeinung oder dachten und denken viele von uns Deutschen so? Jedenfalls kann man sich über sie so seine Gedanken machen.
Wäre sie zynisch oder unverfroren, müsste man annehmen, dass er frech weg wider besseres Wissen die Verbrechen, die in deutschem Namen begangen wurden, leugnet und deswegen auch in seiner Aussage lügt, und dass er keinerlei Bedauern für das Geschehene, geschweige denn für die Opfer, hegt.
Nimmt man an, der Mann meinte es ernst, was er sagte, so kann man nur zu dem Urteil kommen, er war völlig unbedarft und dumm. Trotz Volksempfänger, wodurch alle Reden Hitlers unters Volk gebracht wurden, meistens sogar durch öffentliche Übertragung mittels Lautsprecher auf den Dorf- und Stadtplätzen, trotz Zeitungen, totaler Vereinnamung durch das Regime, trotz Aufmärschen und Aktivitäten von Jungvolk, HJ, Arbeitsdienst, Jungmädel, BDM, SA, SS und all den anderen NS-Organisationen, trotz an vielen Tagen an jedem Haus wehender Hakenkreuzfahnen, trotz Nürnberger Rassengesetze, Pogromnacht am 09. November 1938, Verschwinden der jüdischen Bevölkerung aus dem gesamten Lebensumfeld "ahnte" er damals noch nichts. Dabei war er 1944 44 Jahre alt. Er machte sich über das "plötzliche Verschwinden" des jüdischen Viehhändlers "keinerlei Gedanken". Der Gedanke seines Kameraden, dass "wir Deutsche" "für unser Tun" zur Verantwortung herangezogen werden könnten, war ihm "schleierhaft". Wenn man also annimmt, dass dieser Mensch dumm und unbedarft war, so kann man seine Äußerungen verstehen und nachvollziehen. Aber um von all dem Geschehen im Nazi-Reich nichts mit zu bekommen, müsste man schon so dumm gewesen sein, dass es an Schwachsinn grenzte. Und das kann man nicht annehmen.
Ergo bleibt nur übrig, dass er entweder gelogen hat, weil er es peinlich findet, damals mitgemacht zu haben oder weil er es sogar gut fand, was geschah, oder dass er es verdrängt und vergessen hat. Hat er es aber verdrängt und tatsächlich vergessen, wie es war, so dass er nicht offen und ehrlich darüber reden kann oder will, so muss dies tiefer liegende Gründe haben.
Die oft gestellt Frage "Wie konnte so etwas geschehen?", wieso gerade bei uns, wird hier berührt. Eugen Kogon fasst das Unfassbare in bestechend klaren und schönen Sätzen zusammen (Eugen Kogon, "Der SS-Staat - Das System der deutschen Konzentrationslager", Lizensausgabe, Gütersloh 1974, Seite 389f):
"Etwas Metaphysisches, das dem Verstand allein kaum mehr begreifbar ist, hat sich in den zwölf Rauhjahren des Dritten Reiches mit dem deutschen Volke abgespielt. Aus dem bayerisch-österreichischen Innviertel, wo die Überlieferungen des wilden Heerbanns zwischen Weihnacht und Epiphanie noch am lebendigsten sind, kam ein Mann, dem die Niedrigkeit in Form einer schwarzen Haartolle in die Stirn gestrichen und die Lächerlichkeit unter die Nase gewachsen war, ein Mann mit dem stechenden Blick des Gezeichneten. Er trommelte, trommelte über das Land hin - in einem Advent des Hasses sich selbst als Erlöser kündend, bis um die Zeit der Wende sein Sturm brausend sich erhob und Deutschland mitriß. Ob sie ängstlich am Boden kauerten in der Hoffnung, es werde ohne Schaden über sie hinwegziehen, oder erhobenen Hauptes der nationalsozialistischen Streitkraft sich beigesellten, Parteigenossen, Wehrwirtschaftsführer, HJ-Bannerträger, Frauenschaftsleiterinnen, Blockwarte, Maiden, Soldaten, deren Blitzkriege Europa zerschmetterten - sie waren alle gebannt von ihm. Eingehüllt in ein gleißendes nationalistisches Blendwerk, jagte er sie in den apokalyptischen Feuer- und Bombenregen der jüngsten Tage. In den Abgrund der Not und der Verkommenheit gestürzt, erwachte schließlich der Rest inmitten von Trümmern und Leichen zur Dumpfheit eines neuen Bewußtseins. Was war geschehen? Wie war es geschehen? Es war nicht möglich! Das alles haben wir gar nicht gewusst.!"
Das alles haben wir gar nicht gewusst!
Unser Prototyp des deutschen Normalbürgers aus dem Ostertaler Heimatbuch kommt auf Seite 18 des Buches folgendermaßen weiter zu Wort:
"Der Niederkircher Bürgermeister Ludwig König hatte mich, ohne mich vorher zu fragen, Ende der 1930-er Jahre einfach als Mitglied bei der NSDAP angemeldet. Er hatte mir das nachträglich mit den Worten begründet: 'Es geht nicht mehr, dass Du Dirigent des Musikvereins und nicht Mitglied in der Partei bist.' Das brachte nach dem Krieg Nachteile mit sich. Insbesondere erschien der Saaler Gemeindediener in unserem Haus, um mit Hinweis auf meine ehemalige Parteimitgliedschaft Beschlagnahmungen für die Franzosen durchzuführen. Beinahe wäre ich auch in einem französischen Internierungslager gelandet. Als bekannt wurde, dass Bestrebungen liefen, meinen Namen auf eine schwarze Liste zu setzen, regte sich insbesondere im Marther Gesangverein, dessen Dirigent ich u.a. war, Widerstand. Damals waren die Ostertaler Kommunisten besonders stolz auf den Wiederaufbau des kulturellen Lebens in unserer Heimat. Auf mein Engagement als Dirigent in verschiedenen Musik- und Gesangvereinen des Ostertales wollten auch sie schließlich nicht verzichten. Ich blieb deshalb unbehelligt."
Ludwig Zimmer, sen., aus Saal wusste also nicht, dass er Parteigenosse - Pg - der NSDAP geworden war. Wie die Jungfrau zum Kinde kam er in die Partei. Dabei war der Andrang, in die NSDAP aufgenommen zu werden, so groß, dass zeitweilig "Mitgliedersperren", d.h. Aufnahmeverbote, angeordnet waren und sich riesige Anwärterlisten bildeten, wobei auch schon diese Anwärter Mitgliedsbeiträge zahlen mussten, ganz abgesehen davon dass jeder Aufnahmeantrag persönlich unterschrieben werden musste. Als bekannt wurde, dass Herr Zimmer als Pg von der Besatzungsmacht interniert werden sollte, regte sich im Marther Gesangverein Widerspruch. Aber wo war der Widerspruch, als Herr Zimmer in die NSDAP "eingetreten wurde"?
Wir haben das alles nicht gewusst!
Die St. Wendeler Zeitungen wie alle anderen gleichgeschalteten Zeitungen standen voll von den verbrecherischen Aktivitäten der Behörden, Gerichte und NS-Organisationen. Man kann mit Fug und Recht sagen: Es geschah vor aller Augen und über das meiste wurde in den Medien berichtet, auch über die Existenz der Konzentrationslager. Um es noch einmal mit Eugen Kogon auszudrücken: "Kein Deutscher der nicht gewusst hätte, dass es Konzentrationslager gab. Kein Deutscher, der sie für Sanatorien gehalten hätte." Es konnte kein Nicht-Wissen geben. Sehr viele Deutsche waren Augenzeugen der "antisemitischen Barbarei", Millionen haben "vor brennenden Synagogen und in den Straßenkot gedemütigten jüdischen Männern und Frauen gleichgültig, neugierig, empört oder schadenfroh gestanden", viele haben über die Auslandssender den Stand der Dinge erfahren, nicht wenige Deutsche sind auf Straßen und Bahnhöfen "Elendszügen von Gefangenen" - Deportationsopfer, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter - begegnet. Auch Saul K. Padover kommt in seinem Buch "Lügendetektor" (Saul K. Padover, "Lügendetektor - Vernehmungen im besetzten Deutschland 1944/45", USA 1946, Dt. Ausgabe Frankfurt 2001) zu derselben Überzeugung und die Ausstellung "Vor aller Augen" der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin, dokumentiert sehr bedrückend den alltäglichen Terror in der deutschen Provinz.
Auch die Menschen in Marpingen und Umgebung lasen die Zeitungen und wussten von allem.