Das alternative Heimatbuch

Helden, Opfer, Täter - das Marpinger Ehrenbuch (Seite 806 im Buch)

Von 1961 bis 1964 war das ehemalige NSDAP-Mitglied August Schu in Marpingen Bürgermeister. Er war nach dem Kriege Mitbegründer der SPD in Marpingen gewesen. Während seiner Amtszeit entstand auch das „Marpinger Ehrenbuch", über das an dieser Stelle einige Gedanken geäußert werden sollen.

 Das „Ehrenbuch der Gefallenen und Vermißten von Marpingen" wurde von der Gemeinde Marpingen „zur Erinnerung an die Einweihung des Ehrenmals am 17. November 1963" herausgegeben. Am 30. Oktober 1963 hatte der Gemeinderat beschlossen, „Herrn O.Reg.Rat und Diplom Volkswirt Wilhelm Bungert mit der Bearbeitung und Ausführung des Ehrenbuches ... zu beauftragen". Am „Volkstrauertag" 1963 wurde das Ehrenmal, das seinen Platz am Friedhof vor der katholischen Kirche fand, eingeweiht und das „Ehrenbuch" wurde dort in einem Schrein feierlich hinterlegt. Im Marpinger Ehrenbuch sind alle „Gefallenen und Vermißten" der beiden Weltkrige des vorigen Jahrhunderts namentlich aufgelistet.

Unter denen des 2. Weltkrieges befinden sich auch 17 Parteigenossen der NSDAP und unter ihnen auch der damalige NSDAP-Ortsgruppenleiter von Marpingen. „Die Gemeinde Marpingen gedenkt ihrer in tiefer Ehrfurcht". Kein Wort steht in diesem Ehrenbuch über Alois Kunz, der in Auschwitz ermordet wurde, kein Wort über die anderen Status quo'ler, die sich vor der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 mit all ihrer Kraft gegen den Anschluss an Hitler-Deutschland eingesetzt hatten, kein Wort über den jüdischen Arzt von Marpingen, der 1938 fliehen mußte, kein Wort über das Leid der Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter(innen) in Marpin­gen, kein Wort über die Verbrechen in der Nazi-Zeit, über Euthanasie und Pogromnacht oder Judenverfol­gung. Es wäre heute höchste Zeit, das Buch zu über­arbeiten.

Die Sprache, in der Vorwort und Nachwort gehalten sind, zeugt von der Unbelehrbarkeit der Verfasser des Büchleins. An ihr erkennt man, dass man 1963 noch nicht in der Lage und auch gewillt war, das Jahrhundert-Verbrechen des Hitler-Regimes, das in deutschem Namen begangen wurde, als solches anzuerkennen. Die Zeit des Nationalsoziaslismus erschien immer noch in einem verklärten Licht. So heißt es z.B. im Vorwort:
„... In dörflicher Verbundenheit gingen sie als Vater oder Sohn, als Bruder oder Gatte, als Nachbar oder Freund mit uns durch das Leben. Ein jeder stand im Kreise ihn liebender Menschen, inmitten von Aufgaben einer Zukunft entgegenstrebend. Im guten Glauben sind sie ausgezogen, die Heimat zu schützen; ihr fühlten sie sich verpflichtet und ihr haben sie das Leben geopfert. In Kampf und Not trugen sie alle bis zuletzt die Hoffnung im Herzen, heimzukehren und die Mutter, die Frau, die Kinder und die Geschwister wiederzusehen. Diesen frommen Wunsch, mit dem sie ihre Briefe beendeten, hat das grausame Geschehen des Völkerringens vereitelt. Wegen ihres hohen Opfers gebührt allen, die das Kriegsschicksal dahingerafft hat, unser ehrendes Gedenken. ..."

Heute fragt man sich, inmitten welcher Aufgaben gingen „sie" welcher Zukunft entgegen? Erkannten die Verfasser des Ehrenbuches 1963 immer noch nicht, dass es im Nazi-Reich keine friedliche Zukunft geben konnte? Wie konnte man 1963 immer noch denken, deutsche Soldaten hätten ihre Heimat tausende von Kilometern entfernt in Russland und Afrika oder auf dem riesigen Atlantik verteidigen müssen? In welchem „guten Glauben" sind „sie ausgezogen"? Jeder, der seine Sinne zusammen hatte, musste wissen, dass Deutschland nicht angegriffen worden war, sondern selbst der Aggressor war. Wieso bezeichnete man den verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, gegen den sich die Welt zur Wehr setzte, als „grausames Geschehen des Völkerringens"? Meine Antwort auf diese Fragen ist, dass die Verfasser des „Ehrenbuches" auch 18 Jahre nach der Befreiung, die für viele in Deutschland eine Niederlage war, immer noch in der Nazi-Ideologie verhaftet waren.

Die Lebensläufe der Personen, die damals die politische Verantwortung in Marpingen trugen und die das „Ehrenbuch" veranlassten, stützen diese These. Die beiden ersten Bürgermeister nach dem Saarreferendum von 1955, Heinrich Kunz (CDU, 1956 - 1961) und August Schu (SPD, 1961 - 1964), waren beide Mitglieder der NSDAP gewesen und ebenso der mit der Verfassung des Buches beauftragte Wilhelm Bungert. Alois Kunz, jun., der Sohn des gleichnamigen Widerstandskämpfers, der 1942 in Auschwitz ermordet worden war, war seinerzeit ebenfalls Gemeinderatsmitglied, für die Freie Wählergemeinschaft. Im Laufe der Debatte um das Ehrenbuch verlangte er, dass auch sein Vater darin aufgenommen werde. Der SPD-Bürgermeister Schu stellte aber eine Aufnahme des Wiederstandskämpfers Alois Kunz nur dann in Aussicht, wenn zugleich auch der NSDAP-Parteigenosse und SS-Oberscharführer Viktor Kirsch, der am 28. Mai 1946 in Landsberg am Lech als Kriegsverbrecher von den Amerikanern hingerichtet worden war, in dem Buch erschiene. Daraufhin verzichtete Kunz auf die Aufnahme seines Vaters in das „Ehrenbuch".

Viktor Kirsch war Oberscharführer der Waffen-SS, vergleichbar einem Feldwebel bei der Wehrmacht, hatte von August bis Dezember 1944 in der 10. SS-Ausbildungskompanie in Auschwitz gedient, war von Januar bis April 1945 Bewacher im SS-Arbeitslager Mühldorf, Kommando Mittergars, und gehörte anschließend bis zum 04. Mai 1945 zur SS-Bewachungsmannschaft des Konzentrationslagers Dachau, wobei er auch den Todesmarsch der Häftlinge nach Tirol bewachte. „Viktor Kirsch war einer der Hauptschde", so charakterisierte ihn die Zeitzeugin Justina Dewes aus Marpingen. Seine Aufnahme ins Marpinger Ehrenbuch konnte verhindert werden, allerdings werden auch ohne den verurteilten Kriegsverbrecher Viktor Kirsch immer noch 17 ehemalige Nazis in dem Büchlein geehrt.
Unter ihnen der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Marpingen, Reinhold Hahn, der mit für die Verschleppung von Alois Kunz ins Konzentrationslager verantwortlich war, und der Unterscharführer der Waffen-SS, vergleichbar mit einem Unteroffizier der Wehrmacht, Reinhold Schmidt.

Reinhold Schmidt war wie Hahn und Kirsch Gründungsmitglied der NSDAP Ortsgruppe Marpingen und hatte seine Aufnahme in die Nazi-Partei am 21. März 1933 beantragt. Zwei Jahre später, am 01. April 1935, wurde er in die allgemeine SS aufgenommen. Im Jahre 1937 legte er seine katholische Religion ab und wurde gottgläubig. Ab Juni 1938 wurde er als SS-Wachmann für die Arbeiten an den Westbefestigungsbauten verpflichtet und arbeitete danach ab Juli 1939 beim Heeres-Nebenzeugamt in St. Wendel. Im November 1940 wurde er zur Feldzeugdienststelle Metz abkommandiert. Am 27. Januar 1941 bat er im Alter von 30 Jahren um Einstellung als Freiwilliger in die Waffen-SS, und zwar in die Totenkopf-Standarten und ab dem 31. März 1941 verrichtete er als Freiwilliger der Reserve der Waffen-SS seinen Dienst beim „SS-Totenkopf-Wachsturmbann" im Konzentrationslager Auschwitz. Er begann seinen Dienst in Auschwitz genau zu der Zeit, als das Stammlager ausgebaut und der Aufbau des Lagers Birkenau ins Auge gefasst wurde. Am 23. Dezember 1942 wurde er in die Kommandantur des Konzentrationslagers versetzt. Am 01.09.1942 war er zum SS-Sturmmann (vergleichbar Gefreiter) befördert worden, am 01.05.1943 zum SS-Rottenführer (vergleichbar Obergefreiter) und am 01.02.1944 zum SS-Unterscharführer (vergleichbar Unteroffizier). Mit diesem Dienstgrad steht er auch im Marpinger „Ehrenbuch". Schmidt war also praktisch die gesamte Zeit des Bestehens des KZs Auschwitz dort als SS-Wachmann tätig.
Am 22. Mai 1944 unterschrieb Schmidt folgende Erklärung:
1.) „Mir ist bekannt und ich bin heute darüber belehrt worden, daß ich mit dem Tod bestraft werde, wenn ich mich an Judeneigentum jeglicher Art vergreife.
2.) Über alle während der Judenevakuierung durchzuführenden Maßnahmen habe ich unbedingte Verschwiegenheit zu bewahren, auch gegenüber meinen Kameraden.
3.) Ich verpflichte mich, mit meiner ganzen Person und Arbeitskraft für die schnelle und reibungslose Durchführung dieser Maßnahmen einzusetzen."
Diesen Verpflichtungsschein unterschrieb Schmidt am 22. Mai 1944 und genau in dieser Zeit, nämlich vom 15. Mai bis zum 07. Juli 1944, rollten insgesamt 147 Güterzüge in Auschwitz ein, beladen mit etwa 435.000 ungarischen Juden, die in diesem Zeitraum alle vergast wurden. Offensichtlich war die Versuchung der SS-Wachmannschaften doch ziemlich groß, sich an den Unmengen von jüdischem Eigentum, das im Lagerteil „Kanada" zu Bergen von Effekten aufgehäuft war, zu „bedienen". ...
Schmidt verrichtete auch in dem Zeitraum seinen Dienst in Auschwitz, in dem sein Marpinger Mitbürger Alois Kunz dort inhaftiert war. Kunz kam am 26. August 1942 mit einem Transport aus dem KZ Sachsenhausen in Auschwitz an und fand am 23. Oktober 1942 dort den Todii. Möglicherweise hat der Marpinger Reinhold Schmidt, Angehöriger der SS-Wachmannschaften, den Marpinger Alois Kunz, Häftling, im KZ Auschwitz getroffen.
Während seiner Zeit in Auschwitz war Schmidt Mitglied der SS-Wachmannschaften und als Koch in der Häftlingsküche eingesetzt. Bei dieser Tätigkeit konnte ihm schwerlich das, was in Auschwitz geschah, verborgen bleiben. Während seiner Zeit dort hat er mindestens viermal Heimaturlaub erhalten, den er jedesmal in Marpingen verbrachte. Und ob er sich 100% an seine Verschwiegenheitserklärungen gehalten hat, kann man sicher bezweifeln, so dass auch in Marpingen Einiges über die Verbrechen, die in Auschwitz geschahen, bekannt geworden ist.

Reinhold Schmidt ist laut Ehrenbuch am „07. Mai 1945 bei Senftenberg - Ostfront" gefallen. Dort kann er aber nicht gefallen sein, denn dieser Ort in der Lausitz wurde schon im April 1945 von der Roten Armee befreit. Er kann auch schon deshalb nicht „gefallen" sein, weil er gar kein Soldat war. Viel wahrscheinlicher ist, dass er als SS-Wachmann bei der Evakuierung des KZs Auschwitz dabei war und ab Januar 1945 die Todesmärsche begleitet hat, in denen die noch lebenden Häftlinge von Auschwitz in Gewaltmärschen im tiefsten Winter nach Westen geführt wurden, um sie nicht als Beweismittel der Verbrechen in die Hände der Roten Armee gelangen zu lassen. Bei diesen Märschen krepierten zigtausende von Häftlingen - wer nicht mehr gehen konnte, wurde gnadenlos erschossen. Wahrscheinlich hat er bei der Bewachung eines solchen Todesmarsches den Tod gefunden, wobei ich anmerken möchte, dass er bestimmt kein Held war.

An diesen Mann und an 16 weitere Nazis gedenkt die Gemeinde Marpingen „in tiefer Ehrfurcht". Und über sie schreibt der damalige Bürgermeister August Schu in seinem Nachwort u.a.:
„... Die Einweihung des Denkmals ist jedoch mehr als ein festlicher Akt; sie ist für uns, die wir noch im Leben stehen, eine Stunde der Besinnung und der Einkehr. An ein solches Nachdenken über die Opfer, die der Krieg forderte, soll uns und unsere Nachkommen das Denkmal und das in ihm verwahrte Ehrenbuch der Gefallenen mahnen, auf daß wir ihr Vermächtnis hüten, das da lautet:
Wir sind gestorben in der Erfüllung einer Pflicht, in hingebender Kameradschaft mit still und standhaft getragenem Leid - erfüllt auch ihr Eure Pflicht !
Wohl habt ihr uns ein steinernes Denkmal gesetzt, ist aber damit alles getan? Eure vornehmste Pflicht ist, fortan dazu beizutragen, daß Streit und Hader unter den Völkern sich nicht wieder zum Grauen eines Krieges auswachsen. ...
So sprechen die Gefallenen zu uns. Und da ihr Denkmal auf dem Friedhof steht, wo es für die Gemeinde geradezu zum Gedächtnis-Gottesacker der Toten wurde, die in fremder Erde ruhen, wird dieser Ruf Tag um Tag an unsere Ohren dringen. Wir alle fassen wohl kaum die Größe des Dankes, den wir unseren Toten schulden. ...
Ihr toten Krieger, nehmt die im Vergleich zu Eurem Opfer bescheidene Erinnerungsgabe der Gemeinde Marpingen an! Wir wollen euch die Treue halten im Herzen - möge Euch der Hort des Friedens beschieden sein!"

Jedem Leser und jeder Leserin dieses Buches sei es nun selbst überlassen, sich klar zu machen, wer nun Held, wer Opfer und wer Täter war. Wir Deutsche neigen, so ist es mein Eindruck, dazu, uns Deutsche als Opfer zu sehen, und dabei die wirklichen Opfer des nationalsozialistischen Verbrecherregimes, Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Behinderte, die allesamt als unwertes Leben angesehen wurden, und Polen, Russen und die anderen slawischen Völker, die als Untermenschen tituliert wurden, zu vergessen. Es sollte uns immer in Erinnerung bleiben, dass der 2. Weltkrieg nicht „die grausamste Erfüllung des Lebens" war, wie Bürgermeister Schu in seinem Nachwort im Ehrenbuch schrieb, sondern dass er ein verbrecherischer Vernichtungskrieg war, der von uns Deutschen begonnen wurde. Jedenfalls sind nach meiner Meinung nicht die die Helden, die die Katastrophe ermöglicht und mitgetragen haben, sondern diejenigen, die sie verhindern wollten. Und die sollte man in Ehrenbüchern verewigen.