Das alternative Heimatbuch

Dies ist ein Buch, das niemanden kalt lassen wird. Mit Betroffenheit und Entsetzen werden die einen reagieren, mit Zorn und Erbitterung die anderen. Dies ist kein Buch, das versöhnen will, indem es Täter und Opfer, Unbeteiligte und Gleichgültige verschweigt oder hinter wissenschaftlichen, abstrakten Formulierungen verschwinden lässt. Dies ist ein Buch, in dem die Quellenbelege bis über Schmerzgrenzen hinaus akribisch und detailliert und in großer Fülle aufgeblättert werden.

Dies ist ein Buch, das in einer inzwischen fast altmodisch anmutenden Weise Aufklärung leisten will, angetrieben von einer tief sitzenden moralischen Empörung über die Verbrechen und das Unrecht, die im „Dritten Reich" geschahen. Der Skandal des mehr als sechzig Jahre andauernden Vertuschens und Verschweigens, der schamlosen Rechtfertigung durch die Täter und der teilweise fortdauernden Verunglimpfung der Opfer, treibt den Autor an und ist fast in jedem Satz und in jeder Formulierung spürbar. Dies ist ein außerordentlich mutiges und verdienstvolles Buch. Dies ist endlich ein Anfang.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat in einer groß angelegten Befragung und Untersuchung des Geschichtsbewusstseins von Jugendlichen festgestellt, dass die große Mehrheit von ihnen keine Zweifel an den zahllosen Verbrechen der Nationalsozialisten hegt und diese auch einhellig verurteilt. Was die eigene Familie jedoch anbelangt, so weisen die meisten von ihnen eine Verantwortung von Großeltern und anderen mit ihnen verwandten Zeitzeugen zurück: „Opa war kein Nazi", so heißt der Titel der von Welzer veröffentlichten Studie. Sie belegt, wie schwer man sich im Familienkreis tut, über die eigene Verantwortung zu reden und wie leicht von den Enkelinnen und Enkeln selbst die absurdesten Ausreden, Verharmlosungen und Unwahrheiten geglaubt werden. „Nestbeschmutzer", so wurde in meiner Jugend, die ich in Alsweiler und in St. Wendel verbrachte, häufig derjenige beschimpft, der die Verbrechen an den Opfern des „Dritten Reiches" durch sein Schweigen und seine Gutgläubigkeit gegenüber den Zeitzeugen aus der eigenen Familie oder aus der dörflichen Gemeinschaft nicht als eine „zweite Schuld" auf sich laden wollte, wie der jüdische Journalist, Schriftsteller und Zeitzeuge Ralph Giordano treffend formuliert hat. Eberhard Wagner traut sich, auch der unbequemen Wahrheit in der eigenen Familie ins Auge zu sehen und das macht sein „alternatives Heimatbuch" besonders glaubwürdig.

Ende der siebziger Jahre griff, aus Skandinavien kommend, die „Grabe wo Du stehst!"-Bewegung auch nach Deutschland über. Die heute viel gescholtenen „Achtundsechziger" hatten immerhin versucht, den „Muff unter den Talaren" auszulüften und dabei stießen sie auf den vehementen Widerstand derjenigen, die die Vergangenheit lieber ruhen lassen wollten. Doch die von ihnen als ein Generationenkonflikt betriebene Aufklärungsoffensive gegen das Verschweigekartell der Väter und Mütter erstarrte viel zu früh in abstrakten Gesellschaftsanalysen. „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen." - hinter diese Formel aus der Frankfurter Philosophenschule zogen sich viele Söhne und Töchter allzu frühzeitig zurück. Die Geschichtswerkstätten und Basisinitiativen hingegen, die in großer Zahl seit dem Ende der Studentenbewegung in vielen Städten und Dörfern der alten Bundesrepublik entstanden, fragten nach den konkreten historischen Ereignissen an dem Ort, wo sie sich gründeten. Sie befragten die weitgehend vergessen Opfer, wühlten sich durch Akten, Briefe und Tagebücher, suchten in Listen und Karteien nach Namen und Daten und verwandelten abstrakte, allgemeine Geschichte in konkrete, nachprüfbare und anschauliche Geschichten, Erzählungen, in denen die handelnden Personen benannt und die Schauplätze beschrieben wurden.

Die zahllosen und unvergleichlichen Verbrechen der Nationalsozialisten waren, darin besteht der Kern ihrer Erkenntnisse, nicht allein in der fernen Reichshauptstadt Berlin geplant und ausgeführt worden, nicht nur in den weit entfernten polnischen Städten und russischen Dörfern geschehen, sondern auch nebenan, zu Hause. Die Nachbarschaft von Tat, Täter und Tatort erschütterte auch das bis dahin gerne in Feiertagsreden benutzte Bild eines deutschen Volkes, das „missbraucht" worden sei und „in dessen Namen" die Nationalsozialisten ihre Verbrechen begingen, wie es in der häufig benutzten, beliebten offiziellen Sprachregelung hieß. Die Nationalsozialisten waren keine Marsmenschen, sondern Teil des deutschen Volkes und (leider) kein geringer.

Der Autor stellt sich in diese Tradition. Er gräbt und fördert zu Tage. Dabei muss er nicht einmal besonders tief bohren. Schon dicht unter dem Gras, das viele über die Vergangenheit haben wachsen lassen, tritt plötzlich alles zutage. Denn viele der Verbrechen, die die Nationalsozialisten begingen, konnten durch aufmerksames Lesen zwischen den Zeilen in den Zeitungen und Zeitschriften, die in fast keinem saarländischen Haushalt fehlten, mehr als nur erahnt werden. Außerdem gab es nicht wenige geborene und zugezogene Saarländer, die so hellsichtig waren und die kommenden unvergleichlichen Verbrechen voraussagten. Selbst der gelernte Historiker ist überrascht, wenn er im vorliegenden Buch von jenem mutigen Kaplan Hermes und seinem Pfarrer Bernardi aus Wemmetsweiler z. B. liest, die schon 1932 im Schulunterricht die gefährlichen Rassetheorien verurteilten und davor warnten, dass die Nationalsozialisten alle psychisch Kranken ermorden würden. Natürlich, die von Medizinern und Psychiatern erhobenen Forderungen zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens" lagen schon seit den Zwanziger Jahren in gedruckter Form vor. Wurden sie nicht geglaubt oder war man im Grunde einverstanden?

Als die Saarländer ihrem nationalistischen Rausch erlagen und in freien Wahlen für die Angliederung ihres kleinen Landes an die braune Diktatur in überwältigender Mehrheit stimmten, waren bereits etwa einhunderttausend Hitler-Gegner im „Reich" durch Folterkeller, Gefängnisse und Konzentrationslager getrieben worden. Wagners akribische Pressedokumentation zeigt: die Saarländer, sie wussten von den Morden und den Folterungen, von der Abschaffung der Menschen- und Bürgerrechte durch die von ihnen so glühend verehrte „Deutsche Mutter", zu der sie trotz allem unbedingt und sofort „heim" wollten.

Die Gleichschaltung der Gesellschaft und des Staates im Saarland war bereits vor der formellen Abstimmung weit voran geschritten. Anders als in den großen Städten des Deutschen Reiches und in den industriellen Ballungsgebieten zwischen Rhein und Emscher oder zwischen Saale und Elbe traten die Nationalsozialisten in den vorwiegend agrarischen katholischen Regionen auch als eine soziale Modernisierungsbewegung auf, die gegen die traditionell verfestigten und durch die katholische Kirche seit Generationen geprägten gesellschaftlichen Strukturen aufbegehrte. Lehrer und Lohnarbeiter auf Seiten der NS-Bewegung standen Pfarrer und Pferdebauern auf Seiten der traditionellen Eliten gegenüber. Viele der im vorliegenden „alternativen Heimatbuch" geschilderten Konflikte erklären sich aus diesem Gegensatz.

Wer den Ablauf der Machtergreifung zwei Jahre zuvor im „Reich" als saarländischer Zeitungsleser und Rundfunkhörer verfolgt hatte, musste wissen, dass sich die Nationalsozialisten durch internationale Verträge nicht davon abhalten lassen würden, ihren primitiven Rachegelüsten gegenüber ihren Gegnern freien Lauf zu lassen. Die schwarzen Listen, in denen die Status-Quo-Befürworter, vor allem „Pfaffenkneche", Kommunisten und Sozialdemokraten, mit genauer Adressenangabe verzeichnet waren, lagen lange schon in den Schubladen; der „rassische Hauptfeind", die Juden, wurde durch jahrelange antisemitische Propaganda öffentlich denunziert und an den Pranger gestellt.

So regte sich kaum Widerstand, als die Nationalsozialisten, die Wahlergebnisse waren noch nicht einmal alle ausgezählt, brutal zuschlugen. Der im Saarland immer gerne beschworene Zusammenhalt, wo war er, als Saarländer Saarländer beschimpften, verhafteten, ausraubten, aus dem Lande trieben? Wie tief war die Moral einer ansonsten immer so hoch gelobten Dorfgemeinschaft gesunken, wenn, wie im vorliegend Buch berichtet wird, der bekannte und vertraute Schellenmann denunziert wurde, nur weil er wahrscheinlich versehentlich kurz nach dem Anschluss noch Reklame für ein jüdisches Schuhgeschäft ausrief? Welche Schamlosigkeit ergriff die auf ihre christlichen Werte und Gebote – „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut!" - ansonsten pochenden Geschäftsleute, als sie sich über den Besitz ihrer jüdischen Konkurrenten im Rahmen der Arisierungen hermachten? Wagners Buch dokumentiert diesen „kleinen" Terror des Alltags, die „kleinen" Akte der Unterwerfung, der Charakterlosigkeit, der Gier und der Rücksichtslosigkeit, die alle zusammen einflossen in diesen gewaltigen, ständig anschwellenden Strom des Terrors, der in letzter Konsequenz in die Konzentrations- und Vernichtungsslager führte.

Sachsenhausen, das große Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt, 1936 während der Olympiade erbaut, war das Verwaltungszentrum des sich ständig ausdehnenden KZ-Systems. Der Marpinger Sozialdemokrat Alois Kunz wurde wie viele andere Status-quo-Anhänger in ein Konzentrationslager verschleppt. Er wurde offenbar im Zusammenhang mit der so genannten A-Kartei verhaftet. In ihr waren seit 1936 alle einflussreichen und wichtigen politischen Gegner des Nationalsozialismus erfasst, die beim Beginn eines neuen Weltkrieges sofort zu verhaften waren. Über 800 von ihnen kamen kurz nach dem Überfall Deutschlands auf Polen auch in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Unter ihnen befand sich Alois Kunz, der am 23. September 1939 als Häftling Nr. 2728 von der Lagerverwaltung erfasst wurde. Die Kommandantur wies ihn zunächst in den Block 65 ein.

Dieser aus Holz errichtete etwa 50 mal 8 Meter große Block befand sich im hintersten der vier konzentrisch angelegten Barackenringe, die sich um den halbkreisförmigen Appellplatz herum gruppierten. Jede Baracke bestand aus zwei Flügeln, zwischen denen ein Sanitärtrakt mit Toiletten und Waschgelegenheiten angeordnet war. Jeder Barackenflügel war in zwei Räume unterteilt, einen Tages- und einen Schlafraum. In den für ca. 150 Häftlinge ursprünglich geplanten Blöcken waren zwischen 300 und 500 Häftlingen auf engstem Raum zusammen gepfercht. Viele der zusammen mit Alois Kunz nach Sachsenhausen eingelieferten Häftlinge überlebten bereits die ersten Stunden und Tage ihrer Haft nicht. Sie wurden von der SS, wie z. B. der bekannte Gewerkschaftsführer Lothar Erdmann, schon bald nach der Ankunft zu Tode gequält.

Leider sind keinerlei Berichte oder andere Quellen überliefert, aus denen wir das Schicksal des Marpinger Widerstandskämpfers in dem nur acht Kilometer vor den Toren Berlins gelegenen Konzentrationslager erfahren können. In den erhaltenen Briefen, die er aus dem KZ schrieb, musste er seine wirkliche Lage verschweigen, da ihm ansonsten die schlimmsten Bestrafungen drohten. Doch die Gedenkstätte weiß sehr genau, was sich in der Zeit seiner Haft im KZ Sachsenhausen ereignete. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 bedeutete für die KZ-Häftlinge eine starke Zunahme des täglichen Terrors. Auf dem Appellplatz erschoss die SS im Angesicht aller Häftlinge Angehörige der Zeugen Jehovas, in einer nahe gelegenen Sandgrube ermordete sie auf direkten Befehl Heinrich Himmlers Arbeiter wegen Widerstandes. Allein im Januar 1940 starben mehr als 800 der zu dieser Zeit ca. 12.000 Häftlinge. Sie verhungerten und erfroren, sie wurden erschossen und gehenkt oder starben nach schweren Folterungen, wie z. B. polnische Häftlinge, die die Lager-SS bei strengem Frost so lange mit Wasser übergoss, bis ihre Körper auf dem Appellplatz festfroren.

Was musste Alois Kunz persönlich erleiden? Sicher blieb ihm auch die größte Massenmordaktion in der Geschichte des KZ Sachsenhausen nicht verborgen. In nur zehn Wochen ermordete die Lager-SS in den Monaten September bis November 1941 mit Hilfe einer automatisierten Erschießungsanlage mehr als 10.000 sowjetische Kriegsgefangene. Weitere 3.000 von ihnen starben zur gleichen Zeit auf andere Weise. Wochenlang lag der schwarze Rauch aus den Krematorien des Lagers über den angrenzenden Wohnbezirken der Oranienburger Bevölkerung. Wegen des schwarzen Rauches, aus denen die Asche der Ermordeten herabfiel, konnten die Frauen ihre Wäsche nicht im Garten trocknen und selbst ihre Kinder fragten die SS: „Verbrennt ihr heute wieder Russen?" Zweifellos gehörten die Jahre, in denen Alois Kunz im KZ Sachsenhausen eingesperrt war, zu den schlimmsten.

Bereits im Januar 1940 stellte der damalige 1. Lagerführer des KZ Sachsenhausen, Rudolf Höß, ein erstes Häftlingskommando zusammen, mit dem er in der Nähe der schönen und wegen seiner alten Universität berühmten polnischen Stadt Krakau ein neues, riesiges Lager aufzubauen begann: das Konzentrationslager Auschwitz, zu dessen erstem Kommandanten Höß ernannt wurde. Leider fehlt im Archiv der Gedenkstätte die Transportliste, auf der auch die Deportation des Marpinger Sozialdemokraten nach Auschwitz verzeichnet sein muss. Als Alois Kunz Ende August 1942 in Auschwitz ankam, waren im Nebenlager Auschwitz-Birkenau bereits die Gaskammern zur Ermordung der europäischen Juden in Betrieb. Kunz überlebte nicht einmal zwei Monate.

Auf Bitten des Sohnes von Alois Kunz nahm ich an einer der Gemeinderatssitzungen teil, auf denen über die Ehrentafel für den Marpinger Sozialdemokraten verhandelt wurde. Ich war mit Dokumenten aus dem Archiv der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen eigens aus Berlin angereist und darauf vorbereitet, über das Schicksal der Häftlinge des KZ Sachsenhausen zu berichten. Doch soweit kam es nicht, niemand interessierte sich dafür. So musste ich mit wachsender Entrüstung und Scham die Begründungen und Ausreden derjenigen Gemeinderatsmitglieder mit anhören, die sich in Anwesenheit der Angehörigen gegen eine Ehrung dieses mutigen Widerstandskämpfers und Opfers der NS-Diktatur aussprachen. Deprimiert reiste ich wieder ab. Umso mehr habe ich mich darüber gefreut, dass die Gedenktafel schließlich doch noch dank der Hartnäckigkeit und der Zivilcourage vieler Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde und nicht zuletzt aufgrund der unermüdlichen Initiative des Autors der vorliegenden Studie einen würdigen Platz gefunden hat.

Ich wünsche dem vorliegenden Buch nicht nur viele Leser. Das würde dem Autor wohl nicht genügen. Er will nicht, dass sein Buch in den Regalen verstaubt, er will die Kontroverse, die Auseinandersetzung. Schüler und Jugendliche vor allem sollten seine Dokumentation wie einen Steinbruch nutzen, um selbst eigene Nachforschungen und Recherchen zu unternehmen. Vieles gibt es noch zu tun. Die Geschichte der NS-Zeit in den Gemeinden ist noch lange nicht ausgeforscht. Warum z. B. wurde der Alsweiler Pfarrer mehrfach von der Gestapo einbestellt? Was ist aus den Alsweiler Bürgern geworden, die in Konzentrationslager verschleppt wurden und z. B. im Außenlager des KZ Hinzert bei der ehemaligen Marschallfabrik in St. Wendel Zwangsarbeit leisten mussten? Viele Fragen sind noch offen. Die Gedenkstätte Sachsenhausen bei Berlin betreibt eine moderne internationale Jugendbegegnungsstätte, in der mit der Unterstützung von Pädagogen und Wissenschaftlern die Geschichte des Konzentrationslagers bei der Reichshauptstadt selbständig erforscht und dargestellt werden kann. Ich lade alle Saarländerinnen und Saarländer ganz herzlich dazu ein, den Spuren der Opfer und Widerstandkämpfer aus ihrer Heimat an diesem Ort nachzugehen.

Oranienburg im Juli 2007
Prof. Dr. Günter Morsch
Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten
Leiter Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen