Das alternative Heimatbuch

Gehalten am 28.Januar 2017 von Eberhard Wagner

Wir gedenken heute – hier in Marpingen zum 21. Mal - der Millionen Getöteten, die im faschistischen deutschen Rassenwahn ihr Leben lassen mussten. Sie waren unschuldig und wurden ermordet, weil sie Juden waren, weil sie Sinti oder Roma waren, weil sie homosexuell waren, weil sie behindert waren, weil sie Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter waren. Sie galten als Volksschädlinge und minderwertig.
Sie wurden diskriminiert, schikaniert, verleumdet und eingesperrt. Sie wurden ermordet,

  • durch Ausrottung durch Arbeit bis hin zum Tod,
  • durch Verhungern lassen,
  • durch pseudo-medizinische Experimente,
  • durch Folter,
  • durch Erschießen,
  • durch Vergasen,
  • durch Todesmärsche wenige Wochen vor Kriegsende.


Wir erinnern heute auch an Alois Kunz, den Sozialdemokraten und Widerstandkämpfer aus Marpingen. Er kam nach 3 Jahren KZ Sachsenhausen im August 1942 ins KZ Auschwitz und wurde am 23. Oktober 1942 dort ermordet. Er war einer der ganz wenigen in Marpingen und im damaligen Saargebiet, die gegen den Anschluss an Hitler-Deutschland kämpften. Er setzte sich mit aller Kraft gegen das drohende Unheil ein und versuchte die Menschen zur Stimmabgabe gegen Hitler zu bewegen. Vergebens.

Wir erinnern heute auch an andere Marpinger, die im KZ den Tod fanden:

An Johann Adam Huber, genannt Addi, aus Urexweiler, der als Homosexueller in seinem Dorf keine Chance hatte, das nationalsozialistische Verbrecherregime zu überleben. Er beugte sich nicht dem damaligen Zeitgeist, wurde mehrfach denunziert, mehrfach eingesperrt, konnte der Gestapo entfliehen, lebte fast ein Jahr im Untergrund und wurde dann doch gefasst und im KZ ermordet. Derweil teilten die Bürger seines Dorfes und der umliegenden Dörfer sein Eigentum unter sich auf.

Oder die drei Kinder Weiß, Peter, Maria und Eva, alle drei in Urexweiler geboren und getauft, alle hatten Paten aus Urexweiler. Alle drei wurden in Auschwitz ermordet, Peter und Maria am selben Tag, am 23. Juni 1943, Eva am 10. Mai 1943. Peter hatte im April 1936 noch versucht – er war damals 11 Jahre – bei seinem Urexweiler Paten Zuflucht zu suchen, aber vergeblich, er wurde abgewiesen und landete im Jugend-KZ Moringen. Dort sollte an Sintikindern wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass Kriminalität und Asozialität erblich bedingt seien, insbesondere bei den sogenannten Zigeunern, und somit die rassistische Rechtfertigung für die Ausrottung dieser Bevölkerungsgruppe gelegt werden.

Alois Kunz erlebte bei seinem Kampf gegen den Anschluss des Saargebietes an Hitler-Deutschland schwierige Zeiten.

In Marpingen war eine der größten NSDAP-Ortsgruppen des Kreises St. Wendel entstanden, die ihm unter der Führung des Ortsgruppenleiters Hahn das Leben unerträglich machte. Die meisten seiner Mitkämpfer im Abstimmungskampf hatten Marpingen verlassen, so dass er und seine Familie ganz allein dem Druck der Marpinger Nazis ausgeliefert war. Niemand stand ihm und seiner Familie zur Seite. Und niemand aus der Bevölkerung weinte ihm eine Träne nach, als er im September 1939 ins KZ verschleppt wurde.
Es wäre endlich an der Zeit, dass die Marpinger das wieder gut machen würden. Die Benennung der Marpinger Schule nach ihm oder einer Straße, wäre sicher nicht zuviel verlangt.
Zur Erinnerung: im Marpinger Ehrenbuch werden nach wie vor der Ortsgruppenleiter der NSDAP Hahn und der Aufseher in Auschwitz, der SS-Mann Reinhold Schmidt, als Helden geehrt.

Kunz musste die schleichende Nazifizierung großer Bevölkerungsteile und des öffentlichen Lebens mit anschauen.

Auch wir erleben heute schwierige Zeiten. Ähnlich wie vor 80 Jahren die Seuche des Nationalsozialismus schleichend Herz und Hirn der Menschen infizierte, so scheint es auch heute zu sein.
Gut und böse werden bewusst verwechselt. Hilfsbereitschaft und Mitgefühl werden denunziert. Menschen, die christlich handeln, werden als „Gutmenschen“ beschimpft.

Die Bundeskanzlerin fühlt sich genötigt zu sagen, „das ist nicht mein Land, in dem man dafür beschimpft wird, dass man hilft.“

Der Papst zieht öffentlich Parallelen zu der Zeit vor der Machtübertragung an Hitler und beklagt, dass das „Urteilsvermögen“ der Menschen versage. Es würden „Heilsbringer“ gesucht, „die das Volk gegen andere abschirme“.

In den USA wurde offensichtlich schon einer gefunden.

Dort zeigt sich, wie schnell sich Stimmungen und Machtverhältnisse drehen können und sich eine offene Gesellschaft in einen autoritären Staat verwandeln kann. Die Decke der Demokratie scheint dünner zu sein, als wir bisher gedacht haben.

Die Wahrheit bleibt auf der Strecke. Das Unwort des Jahres ist „post-faktisch“! Die Lüge heißt nicht mehr Lüge sondern „alternative Fakten“ und das ganz offiziell von höchster Regierungsstelle.

Wir sollten langsam anfangen, Angst zu bekommen. Unsere deutsche Geschichte zeigt, dass wir das alles schon einmal hatten.

Am 15. Oktober 1940 wurde eine Frau aus Furschweiler vom Amtsgericht St. Wendel zu 35 RM Strafe verurteilt, weil sie einem Kriegsgefangenen Brot und Marmelade gegeben hatte. Der Richter hatte offensichtlich gut und böse verwechselt. (Interessant wäre zu wissen, was aus ihm nach 1945 geworden ist.)

Heute wird von der „Flüchtlinsfrage“ gesprochen, damals von der „Judenfrage“, heute von „kriminellen Ausländern“ und „NAFRIS“, damals davon, dass das „kriminelle Element beim Juden besonders stark vertreten ist“, so war es am 22. Juli 1935 im St. Wendeler Volksblatt und in der St. Wendeler Zeitung zu lesen. Und weiter: „Der Taschendiebstahl liegt fast ausschließlich in jüdischen Händen“, war dort zu lesen. Schamlose Denunziation einer ganzen Gruppe von Menschen.

Bei der AFD und zum Teil bei der CSU und auch bei der Partei Die Linke finden wir diese Art der Hetze heute wieder. Eine ganze Gruppe wird unter Generalverdacht gestellt.

Auch damals wurde mit Lügen und Denunziationen gearbeitet. Ein Beispiel, das allzu oft vergessen wird, war die Ermordung von ca. 200 Menschen im Zuge des sog. „Röhm-Putsches“ am 30. Juni und 01. Juli 1934. Die Presse der Deutschen Front, darunter das St. Wendeler Volksblatt und die St. Wendeler Zeitung, stellten das Verbrechen als Staatsnotwehr dar und beschimpften die ausländische Presse und die Zeitungen des Statusquo dafür, dass sie Mord auch Mord nannten. Herausragend hierbei war der Chefredakteur des St. Wendeler Volksblattes, Albert Dorscheid. Am 02.07.1934 schrieb er in einem Komentar u.a.: „Wir unterstreichen den Willen des Führers, hier gründlich und endgültig Remedur zu schaffen. ... Dass die ausländische Presse und mit ihr eine gewisse Presse des Saargebietes sich in wilder und zum Teil wüster Sensationsgier mit den blutigen Ereignissen beschäftigt, kann uns ... nicht weiter wundernehmen. Wir bedauern diese Art der Berichterstattung und Stellungnahme im Interesse des deutschen Volksganzen und auch im Interesse unserer engeren Saarheimat. ...“
Hitler selbst outete sich in der Reichstagsrede am 13. Juli 1934 als Mörder. Wörtlich sagte er: „Ich habe den Befehl gegeben, die Hauptschuldigen an diesem Verrat zu erschießen ... und ich gab weiter den Befehl, bei jedem Versuch des Widerstandes der Meuterer gegen ihre Verhaftung diese sofort mit der Waffe niederzumachen.“

Ironie der Geschichte: der Chefredakteur und Hetzer Albert Dorscheid konnte seine Karriere nach 1945 im Saarland nahtlos fortsetzen. Er wurde Leiter des Informationsbüros in der Regierung Johannes Hoffmann und war bis 1954 Chefredakteur von dessen Parteizeitung SVZ.

Mit der AFD stellt sich eine Partei zur Wahl, deren Thüringer Landesvorsitzender das Denkmal für die Opfer, an die wir heute uns erinnern, ungestraft ein Schandmal nennen darf und eine Umkehr der Erinnerungskultur fordert. Ein Vorstandssprecher dieser Partei will ein ethnisch reines Deutschland und auf keinen Fall einen wie Jerome Boateng als Nachbarn. Und diese Partei wird wahrscheinlich mehr als 10 % der Stimmen erhalten.

Mich wundert das nicht, denn an dieser Stelle habe ich in den letzten Jahren schon mehrmals darauf hin gewiesen, dass der Bielefelder Professor Heitmeier in seinen Unersuchungen „Deutsche Zustände“ Mitte der 2000er festgestellt hat, dass 20 – 30 % der Deutschen ein mehr oder weniger festgefügtes rechtsradikales Weltbild haben. Die haben jetzt ihre Partei gefunden.

Aber was wollen diese Leute für ein Deutschland haben? Für ein alternatives Deutschland?

  • Ein Deutschland ohne Euro?
  • Ein Deutschland außerhalb der EU?
  • Ein Deutschland ohne Ausländer?
  • Ein ethnisch reines weißes Deutschland?
  • Ein Deutschland ohne Boateng?
  • Ein Deutschland ohne Erinnerung an die Nazi-Vergangenheit?
  • Ein Deutschland mit geschlossenen Grenzen?
  • Ein Deutschland ohne Asylrecht?
  • Ein Deutschland mit einem Waffenrecht wie in den USA?
  • Ein Deutschland mit weiter laufenden Atomkraftwerken?


Diese Leute haben, glaube ich vergessen, dass wir seit über 70 Jahren Frieden in Mitteleuropa haben. Ich glaube, diese Leute setzen das leichtfertig aufs Spiel.

Ich kann nur appellieren: Seid wachsam, erhebt eure Stimme gegen diese Entwicklungen, wo es immer geht.

Zur Erinnerung an die Opfer der Nazi-Verbrechen legen wir nun unseren Kranz nieder.